Im Westen nichts Neues 2022
Der Ukrainekonflikt warf Europa über Nacht in eine neue Realität. Eine Realität, in der plötzlich ein Krieg ausbrechen könnte, welcher die Völker das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg zum Kämpfen zwingt. Mit dieser Änderung stellte sich mir die Frage, wie ich am besten auf eine solche Bedrohung reagieren sollte: Was ist meine Verantwortung im Falle eines kriegerischen Konflikts? Wie gelangt man in die Situation, in einen Krieg eingezogen zu werden und kämpfen zu müssen? Wie könnte ich mit den Erfahrungen, welche ich im Kampf machen würde, am besten umgehen? Um ein paar Antworten auf diese Fragen zu finden, auch wenn es nur grobe Anhaltspunkte seien, habe ich Erich Maria Remarque’s Klassiker „Im Westen nichts Neues“ gelesen. Dieser Artikel spiegelt meine Eindrücke aus Remarque’s Buch wider und versucht die drei Fragen zu klären, um der Bedrohung eines Krieges besser entgegentreten zu können, auch wenn es nur gefühlte Sicherheit geht.
Der Artikel enthält einige Auszüge aus „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque in Form von Zitaten.
Gesellschaft und Feindbild
„Wie gelangt man in die Situation, selbst in den Krieg zu ziehen?“ - In Im Westen nichts Neues wird klar, dass es nicht die Bevölkerung selbst ist, die sich entschließt in den Krieg zu ziehen. Vielmehr ist es der Staat, der für seinen Konflikt Propaganda betreibt und jegliche Hürde zur Teilnahme verringert. Die öffentliche Meinung wird mittels Geschichten und Feindbildern so manipuliert, dass es allmählich zur allgemeinen Meinung wird, in den Krieg ziehen zu müssen. Dadurch entsteht dann der Druck für jeden einzelnen, selbst teilzunehmen und die Teilnehmerquote erhöht sich nach dem Schneeballprinzip. Zusätzlich dazu werden zahllose Möglichkeiten geschaffen, sich am Krieg zu beteiligen.
"Aber du warst mir vorher nur ein Gedanke, eine Kombination, die in meinem Gehirn lebte und einen Entschluss hervorrief - diese Kombination habe ich erstochen."
Das Interessante ist, dass diese Feindbilder und Gefahren, mit denen so sehr Propaganda betrieben wird, im eigentlichen nichts mehr als ein Gedankenkonstrukt ohne jegliche Materie ist. Der Protagonist Paul Bäumer im Buch hatte genau wie all seine Freunde nie Kontakt zu Franzosen. Trotzdem war er wie alle anderen zu Beginn des Krieges voll davon überzeugt, Frankreich bekämpfen zu müssen. Seine Ansicht ist reines Produkt der Propaganda, der erfundenen Geschichten des Staates, welche ihre Zuhörer motivieren, auf Menschen loszugehen, die sie nicht kennen. Zum Nachdenken kommt Paul erst, als er bereits am Töten ist.
"Ein Befehl hat diese stillen Gestalten zu unsern Feinden gemacht; ein Befehl könnte sie in unsere Freunde verwandeln. An irgendeinem Tisch wird ein Schriftstück von einigen Leuten unterzeichnet, die keiner von uns kennt, und jahrelang ist unser höchstes Ziel das, worauf sonst die Verachtung der Welt und ihre höchste Strafe ruht."
Als Bürger ist man zu einem bestimmten Grad hin den Informationen des Staates als einzige Wahrheitsquelle ausgeliefert. Durch Propaganda werden zwar die Tatsachen nicht geändert, aber die Gedanken und Wahrnehmung der Leute, und diese beeinflussen wiederum die Realität. Man braucht sich also Krieg nicht als eine Menge Leute, die sich bekämpfen, weil sie sich hassen vorstellen. Krieg kann als ein einfacher Gedanke in den Köpfen der Menschen beginnen, der nichts mit der Realität zu tun haben muss.
Erlebnis "Krieg"
"Wie könnte ich mit den Erfahrungen, welche ich im Kampf machen würde, am besten umgehen?" - Im Gefecht wird man in bestimmte Zustände gezwungen, die zwar dem Überleben dienlich sind, aber der eigentlichen Gesundheit und Balance schädlich sind. Beim Lesen des Buches sind mir drei solche Zustände aufgefallen.
„unsere inneren Kräfte sind nicht auf Weiter-, sondern auf Zurückentwicklung angespannt.“
Wenn man sich im aktiven Gefecht wiederfindet, hat man mit einem absoluten Kontrollverlust zu kämpfen. Man kann sich nur zu einem gewissen Grade durch Intelligenz, Wissen und körperliche Ausstattung einen Vorteil verschaffen, doch zum größten Teil liegt es am Zufall, ob man unversehrt bleibt, verletzt wird oder stirbt. Trotz dieses Zufalls versucht jeder zu überleben und hofft deshalb, dass es einen selbst nicht "erwischt". Aufgrund dieses Kontrollverlusts und der unglaublichen, permanenten Lebensgefahr ist, wird man in eine stark defensive Grundhaltung gezwungen. Man versucht in erster Linie zu verteidigen und zu überleben und sämtliche andere Bestrebungen treten in den Hintergrund.
„Die erste Granate, die einschlug, traf in unser Herz. Wir sind abgeschlossen vom Tätigen, vom Streben, vom Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran; wir glauben an den Krieg.“
„Der Wind der Wünsche, der aus den Bücherrücken aufstieg, soll mich wieder erfassen, er soll den schweren, toten Bleiblock, der irgendwo in mir liegt, schmelzen und mir wieder die Ungeduld der Zukunft, die beschwingte Freude an der Welt der Gedanken wecken; – er soll mir das verlorene Bereitsein meiner Jugend zurückbringen.“
Durch diese defensive Grundhaltung gehen sämtliche Ambitionen und Ziele, die ein gesunder Mensch hat, zwangsweise verloren. Das schreckliche ist, dass man keine Wahl hat. Würde man weiter ambitioniert und neugierig sein, so würden die eigenen Überlebenschancen deutlich sinken, weil man mehr Gefahren ausgeliefert würde. Weil das Gefecht ein solch gravierendes Erlebnis ist, hat man lediglich die Wahl, die Wahrscheinlichkeit zu sterben, signifikant zu erhöhen und dafür man selbst zu bleiben oder jegliche Ambitionen und Ziele seines Lebens aufzugeben:
„Es ist, als ob wir früher einmal Geldstücke verschiedener Länder gewesen wären; man hat sie eingeschmolzen, und alle haben jetzt denselben Prägestempel. Will man Unterschiede erkennen, dann muß man schon genau das Material prüfen.“
Um dieses Grauen möglichst schmerzfrei zu überstehen, werden fast alle Soldaten undifferenziert in all ihren Eigenschaften: den Emotionen, der Empathie, dem Charakter.
„Sie reden mir zuviel. Sie haben Sorgen, Ziele, Wünsche, die ich nicht so auffassen kann wie sie."
Ein Soldat ist gezwungen, sich auf ein Minimum zu reduzieren, um die Chancen auf das Überleben in diesem unkontrollierbaren Grauen zu steigern und es leichter zu ertragen. Damit verliert er als Person aber jeglichen Charakter, Empathie und soziale Kompetenz und findet sich, falls er doch in die Heimat zurückkehren sollte, als Fremder, noch dazu ohne jegliche Wünsche und Ambitionen wieder.
„Es sind andere Menschen hier, Menschen, die ich nicht richtig begreife, die ich beneide und verachte“
Dadurch, dass einem selbst diese Dinge fehlen, ergibt sich ein sonderbares, schwieriges Verhältnis mit normalen Leuten, also nicht-Soldaten.
Wie kann man also mit diesen Erlebnissen umgehen? Ich denke, es ist fast zu spät, ohne psychische und physische Schäden zu überleben, wenn das Gefecht gewöhnt ist. Die Anpassungsfähigkeit des Menschen zwingt einen so zu werden, wie ein kaputter Soldat bei der Heimkehr es eben ist, denn dies ist der Preis dafür, die eigenen Überlebenschancen zu maximieren. Wenn man sich nicht anpassen möchte, behält man zwar seinen Charakter, aber man wird mit einer höheren Wahrscheinlichkeit sterben. Die beste Lösung ist es also, gar nicht erst zuzulassen, in einen Krieg gedrängt zu werden, durch Propaganda, Rechtspositivismus oder Naivität.
Die eigene Verantwortung
„Was ist meine Verantwortung im Falle eines Krieges?“ - Wie bereits beschrieben, ist Krieg in erster Linie Sache des Staates und nicht der Bevölkerung. Der Erste Weltkrieg, wie der Ukraine Konflikt, ist kein Konflikt zwischen den Einwohnern zweier Länder, sondern zwischen den Institutionen, welche diese Länder regieren.
Sollte es zu einem Krieg kommen, ist es deshalb für jeden selbst wichtig darauf zu achten, eigenverantwortlich eine Entscheidung zu treffen, wie, bzw. ob, man daran teilnehmen wolle. Kein Zwang des Staates kann diese Entscheidungsfreiheit nehmen - kann sich immer weigern. Die eigene Entscheidung ist von äußerster Bedeutung, denn sie bestimmt, ob man am Krieg zerbricht oder ob man ihn überstehen kann. Wenn man nicht mit voller Überzeugung hinter der eigenen Entscheidung, beispielsweise sich freiwillig zu melden, steht, dann zerbricht man an den kommenden Herausforderungen oder bereut seine Entscheidung und versucht vor ihr später zu fliehen.
Die Frage, die sich jeder in einer solchen Situation stellen muss, lautet nicht „Kämpfen oder nicht kämpfen?“, „Freund oder Feind?“. Sie lautet: „Wie kann ich (in meiner jetzigen Situation) am meisten zur Lösung des Konflikts beitragen?“. Diese Frage individuell zu beantworten, ist die Verantwortung eines jeden Menschen. Tut er es nicht - beispielsweise indem er unreflektiert loszieht und denkt, dass Töten die beste Lösung sei - dann hat er sich selbst und allen anderen gegenüber versagt.
Schluss
„Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist! Es muß alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, daß diese Ströme von Blut vergossen wurden, daß diese Kerker der Qualen zu Hunderttausenden existieren.“
Im Westen nicht Neues macht deutlich, wie sinnlos Krieg sein kann, denn er steht im krassen Widerspruch zu jeglichem Fortschritt, den die Menschheit je errungen hat.
„Leer stöhnt und stemmt sich auf die Arme, er verblutet rasch, niemand kann ihm helfen. Wie ein leerlaufender Schlauch sackt er nach ein paar Minuten zusammen. Was nützt es ihm nun, daß er in der Schule ein so guter Mathematiker war.“
Erich Maria Remarque’s Werk betont, wie schnell all dieser Fortschritt verloren gehen kann, wie durch die Kanonen und Gewehre vom Wissen bis zum Menschen alles entwertet wird.
Doch aus diesen Erkenntnissen des Leides, der Sinnlosigkeit und der falschen Überzeugung wird dem Leser vor Augen geführt, wie schnell das Leben eigentlich vergeht. Es zeigt, wie zerstreut und unachtsam man im Alltag eigentlich ist und dass man es erst merkt, wenn die eigene Existenz in Gefahr ist.
Wir können aus Im Westen nichts Neues vieles lernen: Wir sollen uns eigenverantwortlich entscheiden, statt uns in einen Krieg zwingen zu lassen. Wir können im Alltag lernen, unsere Ambitionen, Empathie und Charakter-definierenden Eigenschaften mehr zu schätzen. Und schlussendlich können wir lernen, oder besser: versuchen zu lernen, dass wir von Natur aus alles haben, was wir brauchen und dass es gut ist, so wie es ist.
„Sie [nicht-Soldaten] reden mir zuviel. Sie haben Sorgen, Ziele, Wünsche, die ich nicht so auffassen kann wie sie. Manchmal sitze ich mit einem von ihnen in dem kleinen Wirtsgarten und versuche, ihm klarzumachen, daß dies eigentlich schon alles ist: so still zu sitzen. Sie verstehen das natürlich, geben es zu, finden es auch, aber nur mit Worten, nur mit Worten, das ist es ja – sie empfinden es, aber stets nur halb, ihr anderes Wesen ist bei anderen Dingen, sie sind so verteilt, keiner empfindet es mit seinem ganzen Leben; ich kann ja selbst auch nicht recht sagen, was ich meine.“